Brahms in Ischl

Am 2. August 1867 unternimmt der 34-jährige Johannes Brahms in Begleitung seines Vaters Johann Jacob eine Reise quer durch die österreichischen Erblande von Wien nach Salzburg. Nach siebentägiger Fahrt und verschiedenen Aufenthalten betritt er am 9. des Monats das Salzkammergut, von Osten kommend, zunächst in seinem steirischen Teil. Drei Tage lang weilt er im Ausseer Land, wo er wandernd von den Ufern des Grundlsees über den Toplitzsee zu dem von steilen Felswänden umringten Kammersee am Südhang des Toten Gebirges vordringt. Für den 12. August ist Brahms erster Aufenthalt in Ischl verbürgt, doch handelt es sich lediglich um einen Kurzbesuch, denn schon anderntags reist er weiter nach Mondsee. Von dem Marktflecken aus besteigt er über die Nordflanke den Schafberg und verbringt dort die Nacht. In aller Frühe dann, auf 1783 Metern Höhe die Seen des Salzkammerguts und Gipfel der Ostalpen betrachtend, erlebt er den Sonnenaufgang. Vielleicht ist es der glimmende Widerschein dieses Morgens, der Brahms vor Augen schwebt, als er sich 13 Jahre später auf der der Suche nach einer Sommerfrische für das Salzkammergut und Ischl entscheidet. Erstmals 1880 und erneut 1882 steigt er saisonhalber an der Traun ab, um schließlich 1889 bis 1896 allsommerlich, jeweils von Mai bis September hier Quartier zu nehmen.

Sein Domizil hat Brahms in der Salzburgerstraße 51 (heute Vorsteherweg 3) am westlichen Ortseingang. Ein anschauliches Bild von dem Komponierhäusl gibt der Freund und Musikforscher Gustav Jenner: „Er wohnte in einem der letzten Häuser, etwas erhöht über der Straße gelegen, gegen Strobl zu. Da es an der Berglehne steht, so trat man aus dem Brahm’schen im oberen Stockwerk gelegenen Zimmer nach hinten sofort ins Freie; einige Schritte hin stand eine Bank und in wenigen Minuten war man im Wald, der sich hinter dem Hause oben vom Berge herunterzieht“. Auch von Brahms‘ Gastgebern und dessen Verbundenheit mit ihnen berichtet Jenner: „Die idyllische Ruhe und Einsamkeit wurde freilich dadurch etwas gestört, daß die Wirtsleute, brave und einfache Menschen, die den unteren Teil des Hauses bewohnten, mit Kindern reich gesegnet waren. Dieser missliche Umstand und die übergroße Einfachheit der Wohnung, die Brahms zuweilen Besuchern gegenüber ein wenig peinlich werden konnte, veranlasste ihn einmal, sich […] nach einer anderen Sommerwohnung in Ischl umzusehen. […] Als ich ihn fragte, wie es ihm gegangen, erzählte er mir, er habe nach einigem Suchen eine Wohnung gefunden, die ihm in jeder Weise zusagte. Da ihm aber vor der Rückreise noch ein wenig Zeit zur Verfügung gestanden, sei er aus Anhänglichkeit zu seiner alten Wohnung hinaufgepilgert; und nun seien ihm seine Wirtsleute so freundlich entgegengekommen, insbesondere hätten sich die Kinder so über seinen Besuch gefreut, daß er es nicht übers Herz bringen konnte, ihnen zu sagen, daß er eine andere Wohnung genommen, vielmehr habe er es ihnen als selbstverständlich hingestellt, daß er zum Sommer wiederkommen werde. Und so geschah es. Brahms […] bezog […] wieder seine alte Wohnung, der er bis an sein Lebensende treu geblieben ist.“

Jenners Erinnerungen geben zudem eine Vorstellung von dem Jahr ein, Jahr aus annähernd gleichbleibenden Arbeitsrhythmus des Komponisten: „Die Sommermonate waren für Brahms die eigentliche Arbeitszeit – wenigstens für die letzten zehn Jahre seines Lebens. Daß er auch in Wien an seinen Werken tätig war, scheint mir selbstverständlich […]. Aber während des Sommers in Ischl arbeitete er aus, reiften seine Werke zur Vollendung. Auch hier waren die frühen Morgenstunden die wichtigsten. Mit der Sonne erhob er sich, ja noch früher: denn oft begann er schon um 5 Uhr seinen ‚Lauf‘ durch die Wälder in der Ischler Umgebung, rastlos arbeitend, und in den frühen Morgenstunden wurde der Gewinn dem Papier anvertraut; um 10 oder 11 Uhr war dann in der Regel die Hauptarbeit des Tages geschehen.“ 

Der erste dauerhafte Ischl-Aufenthalt des mittlerweile 47-Jährigen fällt in die Zeit vom 23. Mai bis 20. September 1880. Wahrscheinlich im Juni schreibt er an seinen Freund, den bedeutenden Chirurgen und begabten Musiker Theodor Billroth: „Ischl aber muss ich sehr loben und da nur mit dem einen gedroht wird, daß halb Wien sich hier zusammenfindet, so kann ich ruhig sein – mir ist das Ganze nicht zuwider. Ich wohne höchst behaglich […]. Vielleicht hält dich das Klima ab; es ist sehr warme weiche Luft und regnet viel. Dagegen aber sind die Wohnungen, Wege und auch die Wirtshäuser gut.“ In seinem Antwortschreiben sinniert Billroth über den Zusammenhang von Ischler Landschaft und Brahms‘ musikalischem Schaffen: „Lieber Freund! Du hast mir durch Übersendung der Trio-Manuskripte wieder eine große Freude gemacht. Wenn beide Sätze und vielleicht noch mehr jetzt in Ischl entstanden sind, so befindest du dich in glücklichster Stimmung. Wie das hinfließt und fortspinnt! Fast möchte ich sagen, wie ein Mozart’sches Opernfinale! Ich habe selten von deinen Manuskripten den Eindruck eines so mühelosen Schaffens gehabt wie von diesen Sätzen; sie sind nach Form und Inhalt im besten Sinn des Wortes klassisch-populäre Kammermusik. Die Wege müssen in Ischl besonders eben und gut sein, da der Schritt nirgends gehemmt ist, auch vom Regen merkt man nichts, der sonst im Salzkammergut wohl auch verdrießlich machen kann. Lass es nur so flott und frisch fortgehen“. Auch in Brahms‘ übriger Korrespondenz spielt das Ischler Wetter wiederholt eine Rolle. In einem Brief vom 29. September an seine Stiefmutter gibt es Anlass zur Klage: „Der Sommer war nicht gerade schön. Es hörte gar nie auf zu regnen. Auch im Herbst jetzt hat man keine rechte Freude. Nein, doch ist es in Wien und zuhause eher zu vertragen als auf dem Lande, wo man doch gern spazieren läuft.“

Am 7. September bricht Brahms nach Altaussee auf, um dort Clara Schumann, die Witwe von Robert Schumann, zu treffen, die tags darauf gemeinsam mit ihrer Tochter den Freund auf eine Stippvisite nach Ischl begleitet. Eine Woche vor seiner Rückreise nach Wien tritt Brahms seinen Gegenbesuch in Berchtesgaden an.

An Werken, mit denen Brahms in diesem Sommer befasst war, sind zu nennen die ‚lachende‘, anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität von Breslau komponierte Akademische Fest-Ouvertüre nebst der ‚weinenden‘, wie Brahms einmal bemerkte, Tragischen Ouvertüre (op. 80 und op. 81); sodann der Beginn der Arbeiten an Nänie (op. 82), einem elegischen Klagegesang für Chor und Orchester auf die Vergänglichkeit des Schönen nach einem Gedicht Friedrich Schillers, komponiert anlässlich des Todes seines Freundes, des Malers Anselm Feuerbach. Bei den von Billroth in seinem Antwortbrief erwähnten Trio-Manuskripten handelt es sich um den 1. Satz des Klaviertrios Nr. 2 in C-Dur (op. 87) und den 1. Satz eines weiteren, heute verschollenen Klaviertrios in Es-Dur, die Brahms möglicherweise – hier gehen die Quellen auseinander –  schon im März desselben Jahres, also kurz vor seiner Ankunft in Ischl,  abgeschlossen hatte.  

Den darauffolgenden Sommer verbringt der Komponist in Pressbaum vor den Toren Wiens. Erst 1882, vom 15. Mai bis 1. September, bezieht Brahms ein weiteres Mal seine Klausur am Fuße der Katrin, des Ischler Hausbergs. Wenig ist von dem Aufenthalt bekannt. Überliefert ist lediglich, dass Brahms mehrere Wochen nach seiner Ankunft zusammen mit dem befreundeten Pianisten Ignaz Brüll nach Altaussee hinüberfährt und dort vom 18. bis 26. August bei László Wagner, einem Professor für Bodenkultur an der Universität Budapest, Quartier nimmt. In Wagners Villa (seit 1976 Hotel Seeblick) finden die Proben und schließlich die halböffentliche Uraufführung des bereits erwähnten Klaviertrios Nr.2 in C-Dur (op.87) statt, das Brahms in den Wochen zuvor mit drei Sätzen komplettiert hat. Der Komponist selbst übernimmt dabei den Klavierpart. Zweites Stück des Abends ist das Streichquartett Nr.1 in F-Dur (op. 88), ein Produkt des Ischler Frühlings: Brahms vermerkte hinter jedem Satz „Frühling 1882“. Abschließend ist die Fertigstellung des Gesangs der Parzen für sechsstimmigen Chor und Orchester (op.89) nach Iphigenies Monolog aus Johann Wolfgang von Goethes gleichnamigem Drama zu vermelden.  

In den folgenden Jahren verbringt Brahms die warme Jahreszeit abwechselnd in Wiesbaden, dem steirischen Mürzzuschlag und schweizerischen Thun. Erst sieben Jahre später, und von nun an regelmäßig bis an sein Lebensende, zieht es Brahms vom 13. Mai bis spätesten 5. September 1889 erneut an die Traun. Im August lobt er in einem Brief an den befreundeten Biologen Theodor Engelmann den hiesigen Menschenschlag: „Ich sitze hier in Ischl. […] Es ist köstlich da und an den Menschen hätten Sie mehr Freude und Vergnügen als irgendwo – von der Schweiz nicht zu reden.“ Von dem für seine satirischen Feuilleton-Beiträge bekannten Autoren und Juristen Daniel Spitzer ist ein Portrait des Komponisten aus jenen Sommertagen erhalten: „Geht man gegen 2 Uhr Nachmittags in das Café Walter [heute Café Zauner], so sieht man an einem Tische im Freien, Kaffee trinkend und Cigaretten rauchend, einen sehr kräftigen, untersetzten Fünfziger mit blondem Haar, die hochgerötheten Wangen  von einem grauen Barte eingerahmt, und mit blitzenden blauen Augen, denen man es ansieht, daß in der geistigen Werkstatt dieses Mannes fortwährend gehämmert und geschmiedet und niemals gefeiert wird. In seiner Brust toben vielleicht manchmal wilde Stürme, aber an der Oberfläche sieht man nichts als ein sich ewig gleichbleibendes Jäger’sches Normalhemd. Es ist Johannes Brahms. […] Er ist in größerer Gesellschaft sehr wortkarg und brummt nur zeitweilig eine ironische Bemerkung; im intimen Kreise aber nimmt er lebhaft an der Unterhaltung theil.“

Am 23. Mai erfährt Brahms in Ischl, dass er zum Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Hamburg ernannt wurde. Er bedankt sich telegrafisch und wird die Auszeichnung bald nach seiner Abreise in der Hansestadt entgegennehmen. Noch zuvor aber, am 14. Juli, bekommt er für die Treue und Verdienste um seine Wahlheimat das von Kaiser Franz I. gestiftete Commandeurkreuz des österreichisch kaiserlichen Leopold-Ordens verliehen. Musikalischer Ertrag dieser Sommermonate ist die seither in zahlreichen Aufführungen und Einspielungen bevorzugte Neufassung der bereits 1854 in Hannover komponierten Klaviertrios H-Dur (op. 8) wie auch die Drei Motetten für 4- und 8-stimmigen Chor a capella (op. 110).

Die Überlieferung für die erste Hälfte der 90-er-Jahre fällt spärlich aus. Festzuhalten bleibt, dass Johannes Brahms im Sommer 1891 in Ischl sein Testament verfasst und im darauffolgenden Jahr hier erfährt, dass seine Schwester in Hamburg verstorben ist. Während seines Aufenthalts im Jahr 1893 wütet ebendort die letzte Cholera-Epidemie Deutschlands, der unter anderem sein Vetter Christian Detmering erlegen ist. Als man Brahms in Ischl davon in Kenntnis setzte, beteiligt er sich mit einer erklecklichen Summe an den Rettungsmaßnahmen. Aus dem Jahr 1894 ist aus der Feder Ludwig Karpaths, eines Musikkritikers des „Neuen Wiener Tagesblatts“ und Verfassers verschiedener Erinnerungsschriften, immerhin eine kurze Anmerkung zu den Essgewohnheiten des Komponisten auf uns gekommen: „Brahms war mittags und abends stets im Hotel Elisabeth zu finden, in dessen Souterrain ein Stübchen sich befand, in dem man billiger und legerer speiste als in dem oben gelegenen eleganten Speisesaal. In diesem Stübchen traf man Brahms um 12 Uhr mittags und um 8 Uhr abends. Ihm nicht genehme Leute wusste er von sich fernzuhalten, dagegen sah er liebe Leute gern um sich“. 

1890 beendete der stets arbeitssame Sommerfrischler in Ischl sein 2. Streichquintett C-Dur (op. 111), in dem sein Biograph Max Kalbeck ein „Kind des würzigen Ischler Mais“ sieht, verfasste 51 Übungen für das Pianoforte (WoO 6) und besorgte die Endredaktion der 13 Kanons für Frauenstimmen (op. 113). Während des Aufenthalts des darauffolgenden Jahres widmete sich Brahms den Sechs Quartetten für Sopran, Alt, Tenor, Bass mit Pianoforte (op. 112), seinem Trio für Klarinette, Violoncello und Klavier in a-Moll (op. 114) und dem Quintett für Klarinette und Streichquartett h-Moll (op. 115). 1892 entstanden die Sieben Fantasien (op. 116) und die Drei Intermezzi für Klavier (op. 117), darunter wahre Preziosen der spätromantischen Klavierliteratur. 1893 komponierte Brahms Sechs Klavierstücke (op.118) und weitere Vier Klavierstücke (op. 119). Für 1894 sind die beiden Sonaten f-Moll und Es-Dur für Klarinette oder Viola und Klavier (op. 120) zu vermelden. Am 19. September fährt Brahms in das nahe gelegene Berchtesgaden, um letztgenannte Stücke mit Richard Mühlfeld, einem der renommiertesten Klarinettisten seiner Zeit, zu proben. Im Anschluss reist er nach Ischl zurück, um knapp eine Woche später seinen Sommeraufenthalt zu beenden und am 25. September nach Wien abzufahren.

1895 weilt Brahms vom 16. Mai bis 16. September in Ischl. Besonderen Eindruck muss ein Wintereinfall Mitte Mai auf den gebürtigen Norddeutschen gemacht haben, von dem er in zwei Briefen eigens berichtet. An den befreundeten Musikwissenschaftler Eusebius Mandyczewski schreibt er: „Ich hatte alles Wetterglück für meine ersten Tage. Mit dem schönsten Spaziergang fing‘s an. Über die zweite Nacht wurde die herrlichste Schneelandschaft hergerichtet, Sie hätten geschwelgt im Anschauen. Der Schnee war so stark gefallen, daß er massenhaft Zweige und Äste brach, ja starke Bäume niederlegte, die nicht ganz sattel- oder wurzelfest waren. Das prachtvolle Intermezzo unterbrach nur kurz das sommerlich warme, mit Regen mehr nur drohende Wetter.“ Seinem Verleger Fritz Simrock meldet er: „Angekommen bin ich zwei Tage vor dem ganz riesigen Schneefall. Es war eine wahre Wollust, die Landschaft zu sehen und auch spazieren zu gehen, im Zimmer aber wurde fest geheizt.“ Am 10. September, gegen Ende seines Aufenthalts, fährt Brahms nach Gmunden zu seinem Freund und Förderer, dem Industriellen Viktor von Miller zu Aichholz, um tags darauf in dessen Villa den 70. Geburtstag des einflussreichen Musikkritikers Eduard Hanslicks zu feiern. In dem vornehmen Landhaus ist Brahms zwischen 1890 und 1896 mehrmals zu Gast. Heute ist darin eine nach dem Komponisten benannte Volksschule untergebracht. 

1896 ist das Jahr seines letzten Ischl-Aufenthalts, zu dem der mittlerweile 63-jährig am 15. Mai von Wien aus aufbricht. Fünf Tage später erfährt Brahms vom Tod seiner Lebensfreundin Clara Schumann, worauf er nach Bonn reist, um am 24. des Monats an der Beerdigung teilzunehmen. Vier Tage später kehrt er, selbst schon gezeichnet, nach Ischl zurück, wo er noch bis zum 31. August aushält. Ludwig Karpath erinnert sich: Im Mai „reiste er nach Ischl, um dort das ihm lieb gewordene Häuschen in der Salzburgerstraße zu beziehen, das ihn so viele Sommer hindurch frisch und fröhlich kommen und gehen sah und das er diesmal als Schwerkranker verlassen sollte. Schon wenige Tage, nachdem Brahms in Ischl eingetroffen war, ereilte ihn zunächst daselbst eine Trauerkunde, die ihn aufs Schmerzlichste berührte und ihn physisch und seelisch erschütterte: die Botschaft vom Tode Clara Schumanns. Man weiß, in wie naher Beziehung Brahms zu dieser Künstlerin stand und seine Freunde begriffen, wie herb ihn der Tod der geliebten Freundin traf.“ Als Brahms von Bonn „wenige Tage später nach Ischl zurückkehrte“, so Karpath weiter, „war er längere Zeit still und in sich gekehrt und verkehrte nur mit wenigen Intimen. Anfang Juni zeigten sich die ersten Spuren von Gelbsucht und in ihrem Gefolge eine merkliche körperliche Abnahme. Erst auf das Drängen seiner Freunde entschloss er sich, einen Arzt zu konsultieren. Dr. Hertzka in Ischl verordnete ihm Karlsbader Wasser und strenge Diät. Daß Brahms damals übrigens seinen Humor noch nicht verloren hatte, beweist die hübsche Episode, die sich gelegentlich dieser Konsultation abspielte. Brahms war an demselben Tage bei [der bekannten Pianistin] Illona Eibenschütz zu Tisch geladen. Als nun der Arzt von der strengen Karlsbader Diät sprach, erwiderte Brahms: ‚Ja, was mach ich denn da? Ich gehe ja heute zu Ilona Eibenschütz, wo es Gulyas gibt!‘ ‚Das dürfen Sie nicht essen!‘, replizierte der Arzt. ‚Nun so denken Sie ich würde Sie erst morgen konsultiert haben!‘, war die Antwort Brahms‘, der dann direkt zu Familie Eibenschütz eilte, in dem er sich die paprizierte Speise wohlschmecken ließ. Am nächsten Tag begann er mit der Kur.“

Mit dem Pathos der Erschütterung berichtet Karpath von seinem letzten Besuch bei dem verehrten Freund und Meister. An der Seite besagter Pianisten stattet er ihn ab: „Ein heißer Julitag. Die Abendschatten senken sich immer tiefer und tiefer, über der Landschaft waltete Frieden, die ganze Natur atmete nichts als reinste Harmonie. Gern folgte ich der Aufforderung der Freundin Ilona Eibenschütz, an den grünen Matten und blühenden Gefilden vorbei hinaufzuwandern zu jenem weltentlegenem Häuschen, das am Ende der Salzburgerstraße stand, in dem paradiesischen Ischl, wo Meister Johannes ungefähr zwei Jahrzehnte lang sein Sommerquartier aufgeschlagen hatte. Wir schritten wohlgemut den Berg hinan, um von ihm selbst Kunde zu holen über sein Befinden, das, wie man sagte, kein sonderlich gutes sei; man erzählte sich, daß Brahms seit einigen Tagen eine große Niedergeschlagenheit zeige, weil ein helles Gelb sein Gesicht überzogen habe. Die stille Klause lag auf einer Anhöhe; neben dieser dehnte sich ein kleiner Garten, an dessen Vorderseite, der Straße zugekehrt, unter einem weitverzweigten Baume, eine Bank sich befand. Auf dieser saß Brahms, als wir uns seiner Behausung näherten. Kaum waren wir in sein Zimmer getreten, als die erheuchelte Freundlichkeit, mit der er den Besuch empfangen hatte, seiner gedrückten Stimmung gewichen war. Man sah es ihm deutlich an, daß er sich für die Dauer nicht verstellen konnte. Ein liebenswürdiger Hausherr, wollte er auch diesmal eine freundliche Miene aufstecken, allein vergebens, er war ungehalten über die verhasste gelbe Farbe, die sein Gesicht und Körper bedeckte, und er sprach wohl nicht wenig über seinen Zustand, aber resigniert und unwirsch. Trotzdem machten seine Ausführungen nicht den Eindruck, als fühlte er sich ernstlich krank. Was mir einigermaßen auffiel, war die häufige Wiederkehr des Wortes Karlsbad in seinen Reden, das er bald willig, bald geradezu zornig aussprach. Mir war elend zu Mute. Ich vermochte den Gedanken nicht bannen, daß ich soeben den Anfang einer Tragödie miterlebe. Ungeachtet meiner Ergriffenheit trachtete ich, zumindest äußerlich, meine Ruhe zu bewahren und mich damit zu beschwichtigen, daß ich in ärztlichen Dingen ein Laie sei. Um irgendetwas tröstliches zu sagen, bemerkte ich: ‚Ich finde nicht, Herr Doktor, daß Sie besonders gelb sind‘. Da kam nun ein Donnerwetter über mich. ‚Es ist auch gar nicht notwendig, daß Sie das finden!‘, fuhr mich Brahms an und wiederholte diesen Satz mit heftig gurgelnder Stimme einige Male. Ich war betroffen und wusste nichts zu erwidern. Nun tat es ihm leid, mich so unwirsch angefahren zu haben, denn er änderte plötzlich den barschen Ton und bot mir in der nettesten Weise Likör und Zigarren an.

Nach halbstündigem Verweilen machten wir uns auf den Heimweg. Brahms begleitete uns zur Türe hinaus und blieb im Garten stehen, während wir die hölzerne Freitreppe hinunter gegangen waren. Wir hatten auf der staubigen Landstraße bereits einige Schritte gemacht, als wir, einer momentanen Eingebung folgend, zurückblickten, um dem Meister nochmals zuzuwinken. Brahms stand unbeweglich da. Die Sonne sendete ihre letzten Grüße. In dem Zwielicht der Abenddämmerung vergoldete ein verhauchender Sonnenstahl seinen langen grauen Bart. Er  nickte mit dem Kopf. Mir stand der kalte Schweiß auf der Stirn, ich wich entsetzt einen Schritt zurück und, meine Begleiterin förmlich fortschleppend, vermochte ich im ersten Augenblick nur die zwei Worte hervorstoßen: ‚Er stirbt!‘ Ich habe den Tod in seinem Gesichte gelesen, als es die absterbende Sonne mit einem letzten Schimmer beleuchtete. Ein unendlich wehmütiger Zug spielte um seine Augen, seine Lippen zuckten schmerzlich, das ganze Gesicht nahm einen so unsagbar traurigen Ausdruck an, daß es mir noch heute kalt über den Rücken läuft, wenn ich mich an jenen bitterbösen Augenblick erinnere. „Facies hypocratica!“ [von Hippokrates beschriebener Gesichtsausdruck eines vom Tode Gezeichneten], sagte ich, und erklärte Ilona diesen Begriff. Ich habe über diesen Vorfall nicht weiter gesprochen, allein ich habe es nie mehr zuwege gebracht, dem kranken Meister ins Auge zu schauen. Gern lebte ich in der Narkose, daß es nur – so drückte sich Brahms selbst aus – eine ‚bürgerliche Gelbsucht‘ sei.“

Komponiert hat Brahms in diesem Sommer noch Elf Choralvorspiele für Orgel (op. 122), deren letztes den beredten Titel trägt „O Welt, ich muss dich lassen“. Am letzten Tag des Monats reist er zunächst nach Wien, um sich kurz darauf, zwischen 3. September und 2. Oktober, tatsächlich in Karlsbad einer Kur zu unterziehen. Sein Gesundheitszustand aber verschlechtert sich zusehends. Laut Kaparth erschien der Schwerkranke am 13. März des darauffolgenden Jahres ein letztes Mal in der Öffentlichkeit, und zwar im Theater an der Wien, anlässlich der Uraufführung der Operette „Göttin der Vernunft“ von Johann Strauß, mit dem Brahms gelegentlich auch in Ischl Umgang pflegte, wovon das bekannte Bild der beiden auf der Gartenveranda des um einige Jahre älteren Kollegen zeugt. Brahms aber versagen die Kräfte, nach Ablauf des zweiten Akts muss man ihn nachhause bringen. Nur kurze Zeit darauf, am 3. April 1897, verstarb Johannes Brahms in seiner Wiener Wohnung. 

Am Ende dieser Chronologie aber soll eine undatierte Erinnerung Gustav Jenners stehen, welche die Verbundenheit des Wanderers Brahms mit den Feld- und Forstpfaden des von Hügeln und Gebirgsstöcken eingehegten Ischlerlandes zum Ausdruck bringt, aber auch des Künstlers unverkennbaren Hang zu Eigensinn und feiner Ironie: „Mir schien, er war dort immer besonders freudig gestimmt, zu Ernst und Scherz gleich gut aufgelegt. Wir streiften viel in der Umgebung von Ischl umher, wo er mit den stillsten und schönsten Waldwegen genau vertraut war. Denn Brahms war ein leidenschaftlicher Freund der Natur. […] Als rüstiger und ausdauernder Fußgänger ging er ziemlich schnell, so lange man in der Ebene blieb. Einmal in Ischl, an einem äußerst heißen Tag, kletterte er mit mir auf einen Aussichtsberg hinauf. Sein Aussehen wurde indessen allmählich unter dem Einfluss der Hitze und des Steigens so beängstigend, daß ich oft versucht war, ihn zur Umkehr zu bewegen, und mich sehr freute, als wir endlich oben ankamen. Dem heißen Tage folgte ein empfindlich kalter Abend. Doch als wir ermüdet spät in seiner Wohnung ankamen, setzte Brahms sich mit mir hinaus auf jene Bank, die neben dem Haus steht, zog seinen Rock aus und ließ sich nun, durchnässt, wie er war, vom kalten Nachtwind behaglich durchwehen. Ähnliches mit ihm gewohnt, wagte ich es doch, eine Besorgnis auszusprechen, er werde sich erkälten. Allein er antwortete, wenn es mir zu kalt werde, solle ich es nur sagen, wir würden dann hineingehen.“ 

Verfasst von Oliver Kretschmann